Die Vielfalt der Religionen

Modelle, das Verhältnis der verschiedenen Religionen zueinander zu bestimmen

 

a) allgemein
b) ergänzend eine psychologische Sicht

 

a) allgemein

Verschiedenen Religionen entstehen dadurch, daß ...

1. ... es entweder verschiedene Götter gibt, die alle etwas anderes von den Menschen wollen (der Polytheismus hat den Vorteil, die menschliche Psyche mit allen ihren Widersprüchen adäquat abbilden zu können, ohne sich in allzu gravierende Widersprüche zu verheddern. Die bei den Punkten 2. und 3. durchgeführte Differenzierung wäre hier analog möglich, erübrigt sich aber, da die Unterschiede zwischen den Religionen bereits hinreichend erklärt sind),

2. .... es nur einen Gott gibt,
2.1. der aber jedem etwas anderes zu sagen hat, oder
2.2. der jedem dasselbe, nur in anderen, kulturspezifischen Worten sagt,
2.3. dessen Worte in unterschiedlichem Maß mißverstanden und deshalb umgeformt wurden, oder

3. ... es keinen Gott gibt, und die Religion ein psychologisches Phänomen ist (ausführlicher s.u.), durch das archetypische Elemente der menschlichen Psyche in eine mythische Form abgebildet werden. Diese Abbildung kann
3.1. unterschiedliche Archetypen betreffen (vgl. 2.1.),
3.2. gleiche Archetypen in unterschiedliche kulturspezifische Mythen projezieren (vgl. 2.2.) oder
3.3. Archetypen unterschiedlich treffend abbilden (vgl. 2.3.)

Die gängigen Modelle für einen religiösen Pluralismus lassen sich wie folgt in dieses Schema einsortieren:

A. Pluralismusmodell:
"Jede Religion hat Recht"
(entspricht 1., 2.1. bzw. 3.1. oder 2.2. bzw. 3.2.)

B. Inklusivitätsmodell:
"Meine Religion hat mega-recht, und die anderen enthalten nur einen Abglanz der Fülle meiner Religion"
Dieses Modell setzt vorraus, daß der eigene Gott (oder Götter) den Vertretern der eigenen Religion alles gesagt hat, was nur irgend zu sagen ist (vgl. 2.1. oder 3.1.: alle, aber auch wirklich alle Archetypen finden in den Mythen ihre Entsprechung), und daß die anderen Religionen nur eine unvollkommene Auswahl der von Gott zu sagenden Worte bietet (2.1. bzw. 3.1.: nicht alle Archetypen finden eine mythische Entsprechung), sowie daß die anderen Religionen die zu vermittelnden Wahrheiten nicht so perfekt formuliert haben (vgl. 2.3. bzw. 3.3.: die Archetypen sind nicht so treffend und unmittelbar eingängig im Mythos abgebildet).

C. Exklusivitätsmodell:
"Nur meine Religion hat recht, und die anderen sind Schall und Rauch."
Dieses Modell ist die Extremform von B. In den anderen Religionen hat Gott sich in keiner Weise geäußert, nichts bei ihnen hat auch nur irgendeinen tiefergehenden Sinn, kein einziger Archetypus läßt sich in ihnen wiederfinden.

Hier wird klar, daß keines dieser Modelle A, B und C so recht befriedigt:

Wie wollen wir beurteilen, ob Gott auch zu den anderen Völkern gesprochen hat, wenn wir nicht wissen, was für sie von Bedeutung ist, welche Archetypen für diese Völker besonders wichtig sind und in ihrer spezifischen Situation einer rituellen Verstärkung bedürfen?! wenn wir in ihrer Gedankenwelt nicht drinstecken, und deshalb vieles nicht dem Gemeinten spontan zuordnen können, viele Dinge für uns nicht so unmittelbar eingängig sind, wir von ihnen nicht so unmitttelbar berührt werden, wie die ursprünglichen Adressaten?!

Letzten Endes können wir Gott nur daran erkennen, daß er uns berührt. Darum ist es angezeigt, die Perspektive zu wechseln, die Sicht des objektiven Betrachters zu verlassen und die ganze Sache aus der subjektiven Sicht des religiösen Menschen zu betrachten: Der ist mit seiner Religion gewissermaßen verheiratet. Keine andere Religion entfacht in ihm eine auch nur annähernd so große Begeisterung, wie die eigene; genauso wie die eigene Frau die schönste, liebste, (...usw.) ist und keine andere ihr gleichkommt. Jede Suche nach objektivierbaren Gründen, warum die eigene Frau/Religion die schönste/wahrste ist, mag letzten Endes vielleicht den Verstand befriedigen, eine treffende Antwort im objektiven Sinn wird sie aber nur selten liefern können.

Warum es nun so viele verschiedene Religionen gibt:

Meines Erachtens nur deshalb, weil die Menschen verschieden sind, jeder etwas anderes braucht, eine andere Sprache spricht, einen anderen Hintergrund und ein anderes Vorverständnis hat. Weil Gott uns da abholt, wo wir sind.

 

b) eine psychologische Sicht

"Da nun in dieser Welt nichts von heilsamen Mächten sichtbar ist, als jene großen 'psychotherapeutischen' Systeme, die man als Religionen bezeichnet und von denen man das 'Heil der Seele' erwartet, so ist es ganz natürlich, daß nicht wenige den gerechtfertigten und nicht selten auch geglückten Versuch unternehmen, mit neugewonnenem Verständnis der Bedeutungsschwere überlieferter Heilswahrheiten sich einer der bestehenden Konfessionen einzuordnen."
(C.G.Jung)

1. Vorraussetzungen

Religionen stellen Bezüge des Bewußtseins zu ansonsten unbewußten archetypischen Strukturen der menschlichen Psyche her. Diese Strukturen sind teils änderbar, teils unabänderlich, auf jeden Fall aber multifunktional. Mit multifunktional meine ich, daß ein und dieselbe Struktur sich in verschiedensten Bereichen des menschlichen Handelns und Denkens auswirkt (Beispiel: Charakterzüge, die sich in der Handschrift, im Gesichtsausdruck, in Verhaltensmustern, in der Gestik usw. auswirken können).  

2. Verscheidene Religionen: Gleiche Inhalte in unterschiedlicher Formulierung

Aufgrund dieser Multifunktionalität kann der Bezug auf verschiedenen Wegen hergestellt werden. Der Charakter eines Menschen kann, um im Beispiel zu bleiben, entsprechend über Schönschreibübungen (->Handschrift), Anlachen (-> Gesichtsausdruck), Gesetze (->Verhaltensmuster), QiGong bzw. Yogaübungen (-> Gestik) usw. therapiert werden. Es gibt also immer eine Hand voll Therapiekonzepte, die sich auf den ersten Blick sehr unterscheiden können, als ob sie nichts miteinander zu tun hätten. Und doch können sie dasselbe Ziel verfolgen und erreichen.  

So stellen auch die Religionen verschiedene Zugänge zum Inneren des Menschen dar und können bei aller Verschiedenheit doch dasselbe Ziel verfolgen. Das Problem ist die Transformation der Gedanken der einen Religion in die Gedankenwelt der anderen, die über die Analyse der Wirkung auf die Psyche möglich ist. Der Wahrheitsanspruch einer Religion bezieht sich eben nicht auf den darstellenden Aspekt der mythischen Erzählungen, sondern auf den Wirkung erzielenden.

Beispiel:
Religion 1 sagt: Die Wahrheit ist rot.
Religion 2 sagt: Nein, die Wahrheit ist warm.
Die Gleichung "rot = warm" (bedeutet: beide Religionen sagen dasselbe in unterschiedlichen Worten), die aus naturwissenschaftlicher Sicht natürlich absoluter Unsinn ist, ist allein aus dem Grund wahr, weil die rote Farbe wie auch eine angenehm hohe Temperatur in der Psyche des Menschen gleichartige Wirkungen (zumindest deren eine) haben.

3. Verschiedene Religionen: Unterschiedliche Inhalte

Es werden Bezüge zu unterschiedlichen Archetypen hergestellt, vgl. oben Nr.1.

4. Verschiedene Religionen: Unterschiedliche Wirkungsgrade der therapeutischen Konzepte

Die Wirksamkeit (Wahrheitstiefe) einer Religion korreliert mit der Enge der assoziativen Verknüpfung zwischen den therapeutischen Maßnahmen (Mythen erzählen, beichten, Verbeugungen, ...) und den Archetypen, auf die sie abzielen. Die Wahrheitstiefe einer religiösen Aussage (und dazu zähle ich beispielsweise aa) eine Yoga-Übung und bb) eine Geschichte) hängt davon ab,
- ad aa) und bb): wie treffend formuliert worden ist bzw.
- ad bb): aus welchem kulturellem Umfeld der Rezipient kommt.

5. Bezüge zu gängigen Modellen zum Pluralismus der Religionen

- Exklusivitätsmodell ("Meine Religion hat alleine Recht, alle anderen sind des Teufels")

Dieses Modell huldigt der Gleichung "rot ungleich warm". (vgl. oben Punkt 2.)

- Pluralismusmodell ("Man kann nicht entscheiden, welche Religion recht hat, folglich haben alle mit gleicher Wahrscheinlichkeit recht")

Dieses Modell ignoriert die unterschiedlichen Wirkungsgrade (s.o. Punkt 4.) und Inhalte (s.o. Punkt 3.). Beliebigkeit ist nicht angesagt. Vorteil dieses Modells ist aber der agnostische Standpunkt bezüglich einer wörtlichen Deutung des Transzendenten.

- Inklusivitätsmodell ("Nur meine Religion bietet die Fülle der Wahrheit, auch wenn ich in anderen Religionen hier und dort einen Funken des Großen Lichtes entdecken kann.")

Dieses Modell weckt den Verdacht, daß sein Anhänger zum einen nicht die Gedankenwelten der anderen Religionen in die seiner eigenen in genügendem Maße transformiert hat. Es fehlen ihm die entsprechenden "Wörterbücher", die ihm beispielsweise das Wort "rot" in den Begriff "warm" übersetzen. (vgl. oben Punkt 2.). Zum anderen wird kaum eine Religion über das gesamte Spektrum der therapeutischen Möglichkeiten verfügen, schon gar nicht immer über die jeweils wirkungsvollste Variante. Andererseits hat dieses Modell den Vorteil, andere Religionen anzuerkennen, ohne in Beliebigkeit zu verfallen.

Befriedigen kann, wie schon gesagt, keines der drei Modelle.

 

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erstellt: letzte Änderung: 21.03.2002