Aspekte des Religiösen

a) Allgemein, biblisch
b) Parallele Vorstellungen aus anderen Religionen und Philosophieen:

a) Allgemein, biblisch

In Religionen geht es um die Beziehung des Menschen zu einer über das mit den fünf Sinnen Erkennbare hinausgehenden Wirklichkeit (unabhängig davon, ob diese Wirklichkeit ein irgendwie stofflich existierender Gott, nur ein psychologisches Phänomen oder irgendetwas dazwischenliegendes ist). Diese Wirklichkeit wird Transzendenz oder Gott genannt.

"Wirklichkeit" hängt mit "wirken" zusammen. Gott kann man nicht unmittelbar erkennen. Die Göttlichkeit Jesu zB ergibt sich aus seiner "Wirkung", genauer aus seiner wundersamen Wirkung: das leere Grab, man war von seinen Reden fasziniert. In diesem positiven Erleben drückt sich die Gegenwart des Himmelreiches aus.

Das Himmelreich wirkt in die Herzen hinein, und verwandelt die Menschen von innen her.

ausführlich:

Wie kann man also nun mit dem Anspruch eines Anderen umgehen, das Heil der Menschheit zu predigen oder gar zu sein? Die Evangelien sind ja nicht mit "Stempel und Unterschrift vom lieben Gott vom Himmel gefallen".

Zumindest drei Möglichkeiten gibt es, das Problem anzugehen:
- 1. Man hat einen vertrauenswürdigen Menschen, der einem von Gott erzählt, dem man glaubt. Und man macht die Probe auf's Exempel.
- 2. Jahrtausende haben die Menschen in der Bibel das gefunden, was sie gesucht hatten. Das ist ein gutes Argument, es auch einmal selber zu versuchen (Apg5,38-39), (aber es ist natürlich kein Argument, es ausgerechnet mit der Bibel zu versuchen. Die heiligen Schriften anderer Völker (zB die Veden der Inder) haben oft ein ähnlich hohes oder gar ein höheres Alter. Bei der Altersbestimmung muß man übrigens in der Regel zwischen dem Alter unterscheiden, das eine Schrift sich selber beimißt und dem Alter nach dem Urteil der Historiker. Das Alte Testament ist zB ungefähr zwischen 700 und 300 vor Christus entstanden, die Mosebücher sind erst nach der babylonischnen Gefangenschaft kompiliert worden.)
- 3. Man ist unmittelbar von einer Heiligen Schrift oder einer Predigt beeindruckt. Diese letzte Möglichkeit bietet das sicherste Kriterium für Wahrheit, für religiöse Wahrheit. Sie ist durch die antike Gnosiskritik (Gnosis = antike, vielfach christlich gefärbte Religion, die in der Erkenntnis des Göttlichen Befreiung gesucht hat), die über weite Strecken sicher voll berechtigt war, bedauerlicherweise ein wenig zu sehr aus dem Blickfeld gerückt worden. Dabei wird sie dem Erlebnischarakter des Religiösen am ehesten gerecht.

Ich möchte hier einmal Werner Förster zitieren:
"Die Gnosis hat also etwas Eigenes in der Weise, wie sie ihr Ziel ergreift. Das Zentrale der Gnosis, der 'Ruf', erreicht den Menschen weder in seinem rationalen Denken noch in einem das Denken ausschaltenden Erlebnis. Der Mench hat eine besondere Weise des Aufnehmens in sein 'Ich'. Er fühlt sich 'angesprochen' und antwortet darauf. Er fühlt, dass ihm das entgegentritt, was in ihm, allerdings verschüttet, liegt. Es ist nichts Neues, sondern vielmehr das Alte, an das nur erinnert zu werden braucht. Es ist wie ein Ton, der in der Ferne anklingt und eine Saite im Inneren zum Mitschwingen bringt." (aus: G.R.S.Mead: Fragmente eines verschollenen Glaubens, Neuausgabe im Ansataverlag, 1990, Seite XXIX) (vgl Off3,20)

Die Wirkung des Göttlichen in die menschliche Psyche hinein, dieses Offenbarungsgeschehen ist einfach wunderbar geschildert.

Religion und damit auch Offenbarung, so ist oben definiert, bedarf der Beziehung des Einzelnen zum Nicht-unmittelbar-erkannbaren, und so eine Beziehung ist etwas Zweiseitiges, das heißt sie ist ohne Suche, ohne eigenes Bemühen um das Verständnis dessen, was aus dem Jenseits kommt, undenkbar (Jer29,13f - Ps119,2 - Mt7,7 - uvm). Jeder sucht anders, und folglich empfängt auch jeder anders, Anderes.

Religion ist also immer auch etwas sehr Individuelles. Vielfalt ist geradezu ein Kennzeichen vieler Religionen (1.Kor12,4). Die Zahl christlicher Sekten zB. wuchs in den ersten nachchristlichen Jahrhunderten inflationär an. Das hängt mit diesem individuellen Charakter einer Offenbarung zusammen. Sie gilt zunächst einmal - in Gänze - nur für den Empfangenden. Natürlich gibt es in so einer Offenbarung auch viele Passagen, die für andere Menschen ebenso gültig sind, und zwar um so mehr, je mehr die Situation der anderen Menschen derjenigen des Empfangenden gleicht. Eine allen Menschen geltende Offenbarung zielt damit vor allem auf jene Lebensbereiche, die von allen Menschen in identischer Weise erlebt werden. Die Gültigkeit einer Offenbarung muß also individuell bestimmt werden.

Mit der Offenbarung darf der Strom der Wirkung aber nicht versiegen, wie es bei den Gnostikern allzuoft der Fall war. Er wird sich vielmehr in das gesamte Fühlen, Denken und Handeln eines Menschen hinein ergiessen (Jak2,17), und das kann sehr unbequem sein (Mt7,13f), weil man von liebgewordenen Gewohnheiten Abschied nehmen muß, um dem Neuen (nach Förster: dem verschütteten Alten) Gelegenheit zur Entfaltung geben zu können (Mt6,24 - Mt5,29 ist im selben Sinn und selbstverständlich nicht wörtlich zu verstehen - Offb10,10 - Eph4,22-24). Nur wer sein Herz nicht an vergängliche Dinge hängt, wer bereit ist, sich zu ändern, Altes aufzugeben, um Neues zu bekommen, nur so ein Mensch ist lebendig, die anderen sind tot, auch wenn sie körperlich leben. (Mt8,22)

Denken, Fühlen und Handeln sollen immer eine Einheit sein. Und so gibt es in der Bibel auch die folgende Kritik: Formal alle Gebote zu erfüllen, aber dazu nicht den inneren Antrieb zu verspüren, das ist zwar ganz nett, aber keineswegs befriedigend (Hos6,6 - Mt5,28 - Mt5,8 - 1.Kor13,1ff). Ein solcher innerer Zwiespalt soll überwunden werden.

Faszit: Das religiöse Geschehen möchte ich wie folgt skizzieren:
-- 1. Gottes Bereitschaft zu geben + Unzufriedenheit/innerer Zwiespalt
-> 2. Gott gibt die/eine Offenbarung + Suche
-> 3. Er gibt Freude + Erkenntnis und Ergriffen- bzw. Erlöstsein
-> 4. Er gibt Segen + Wirkung der Erkenntnis und des neuen Bewußtseins ins Handeln hinein.
(wobei das oberste Plus-Zeichen im Sinne eines logischen UND zu verstehen ist und alle weiteren als summarisches Zeichen. Links steht immer die göttliche Seite des Geschehens, rechts die menschliche)
Alles hat eine irdische und eine transzendentale Dimension.

b) Parallele Vorstellungen aus anderen Religionen und Philosophieen:

Suche:

Allah spricht: "O meine Diener, ihr befindet euch alle im Irrtum, außer demjenigen, den ich recht geleitet habe. Bittet mich um rechte Leitung, und ich werde euch recht leiten." (Islam, Muslim16,132)

Änderungen im Handeln:

Krischna spricht: "Selbst wenn ein großer Bösewicht mich liebt / niemand sonst verehrend / ist als gut er zu betrachten / hat er sich doch recht entschieden / schnell wird er tugendhaft / (und) geht zum ewigen Frieden ein." (Hinduismus, Bhagavadgita9,30-31a)

Einheit von Fühlen, Denken und Handeln:

"Frei ist, wer lebt, wie er will, wer unter keiner Notwendigkeit, unter keiner Gewalt, unter keinem Zwang steht; dessen Begierden jedesmal erhalten, wonach sie streben; dessen Ablehnungen nie in das hineingeraten, was ihnen zuwider ist. Ist nun aber irgendein Mensch, der in Sünden leben wollte?
Nicht einer."
(stoische Philosophie, Epiktet, Vorträge, 4,1,1)

Nietzsche: "Sondern lebendige Gefährten brauche ich, die mir folgen, weil sie sich selber folgen wollen - und dorthin, wo ich will" (Also sprach Zarathustra, Vorrede9)

Herzensbildung

Lao-Tse: "Der wahrhaft Große / verweilt bei innerer Fülle / und nicht beim äußeren Schein / er hängt nicht an der Hülle / und lebt nur aus dem Sein." (Tao-Te-King38)

Freude:

Epikur: "Denn nicht fortgesetzte Trinkgelage, nicht der Genuß von Knaben oder Weibern oder von Fischen und sonstigen Gerichten, wie sie eine kostbare Tafel trägt, bereichern das Leben mit Lust, sondern nüchternes Denken, das die Gründe für das Wählen und Meiden jedes Tuns erforscht und die Meinungen beseitigt, aus denen die meisten Störungen des Seelenlebens sich ergeben." (Brief an Menoikeus, 132)

Individualität der Offenbarung:

Epikur: "Denn es gibt Götter, ihre Erkenntnis ist deutlich. Aber so, wie sie die Menge sich vorstellt, sind sie nicht. Denn sie wahrt ihnen die Eigenschaften nicht, die sie ihnen in ihrer Vorstellung zuschreibt. Gottlos ist nicht, wer die Götter der Menge beseitigt, sondern wer die Anschauungen der Menge auf die Götter überträgt." (Brief an Menoikeus 123-124)

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erstellt: Sommer 2000 letzte Änderung: 16.07.2003